Esther Brunner

 
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Prof. Dr. Esther Brunner
Dozentin Mathematik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau
Professorin Mathematikdidaktik
Dozentin Pädagogik/Psychologie

 
 
 

Mathematisch ist der Zufall „gebändigt“ – oder von der Kalkulierbarkeit des Zufalls

Der Zufall beschäftigt die Menschen schon seit Jahrtausenden und wird es auch weiterhin tun: Verläuft unser Leben entlang eines grossen Plans und eines vorbestimmten Schicksals oder besteht es eher aus einer Aneinanderreihung von zufälligen Ereignissen? Zufall und Schicksal erscheinen dabei als Gegensatzpaare. Über Jahrhunderte konnte man mit der Idee des Schicksals nicht wenige Menschen in eng vorgegebene Rahmenbedingungen verweisen und ihre Möglichkeiten dadurch drastisch einschränken. Gemäss der modernen Quantenphysik (Feynman, 2016) – einer der aktuell besten geprüften physikalischen Theorien, entlang derer man auch im CERN in Genf forscht –, dann ist diese Frage schon längst entschieden. Denn aus quantenphysikalischer Sicht ist grundsätzlich alles Zufall! Dabei geht es jeweils lediglich um eine Eintretenswahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Phänomen oder ein Verhalten. Ob ich gerade hier bin, während ich das schreibe, ist quantenphysikalisch zwar höchst wahrscheinlich, während eher unwahrscheinlich – aber quantenphysikalisch nicht gänzlich ausgeschlossen – ist, dass ich auf dem Mond oder in einem anderen Zimmer bin.

Und damit sind wir bei einem weiteren Paar, allerdings keinem gegensätzlichen: dem Zufall und dem Glück. Glück ist mathematisch gesehen, die – vielleicht verschwindend kleine – Eintretenswahrscheinlichkeit eines als positiv betrachteten Ereignisses. Mathematisch hat man den Zufall längst gebändigt, indem man ihn berechenbar gemacht hat. Der Zufall berechnet sich nämlich aus der Anzahl günstiger Fälle im Verhältnis zur Anzahl möglicher Fälle und bestimmt damit die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines günstigen Falls. In der Mathematik wird deshalb nicht das Wesen des Zufalls untersucht, das ist eine metaphysische Frage. Stochastik ist eine „praktische Theorie“ und arbeitet mit praktikablen Vorstellungen vom Zufall und versucht dabei, auf eine Weise mit dem „Phänomen des Unsicheren“ umzugehen, dass es als eine mathematische Beschreibung tauglich ist (Biehler & Engel, 2015, S. 222). Damit wird der Zufall in der Stochastik – einem mathematischen Gebiet – nicht nur klar beschreibbar, sondern ebenso sehr eindeutig berechenbar. Unterschiedliche Auffassungen existieren lediglich darüber, wie man dazu kommt, Ereignissen überhaupt Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen (Biehler & Engel, 2015).

Ein wichtiges stochastisches Prinzip ist dabei die Wahrscheinlichkeit als relativer Anteil in Gleichverteilungssituationen. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses als relativer Anteil aller möglichen Versuchsfälle, die zu diesem Ereignis gehören, als gleichmöglich bzw. gleichwahrscheinlich angesehen (Biehler & Engel, 2015). Wie wahrscheinlich ist es beispielsweise, dass man beim Würfeln eine 6 würfelt? Richtig: 1/6, denn es gibt insgesamt 6 verschiedene mögliche Fälle, wovon einer – nämlich derjenige der 6 – günstig ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich – bei perfekten Würfeln und perfekter Tischbeschaffenheit – also wirklich eine 6 würfle, ist somit 1/6. Die Idee, die diesem Experiment und der entsprechenden Berechnung zugrunde liegt, ist diejenige der Gleichverteilungssituation: jede Augenzahl des Würfels wird als gleichwahrscheinliches mögliches Resultat angenommen. Die Idee der Wahrscheinlichkeit als relativer Anteil in Gleichverteilungssituationen verbindet schliesslich den Zufall mit der Datenerhebung, also der Statistik. Die Vorhersage eines Einzelfalles – ein einziger Wurf mit dem Würfel – ist nicht möglich, während die Beschreibung und Bestimmung der relativen Häufigkeit und damit der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Ereignisses – z.B. Würfeln einer 6 – dann präzise möglich wird, wenn viele Fälle einbezogen werden. Man spricht auch vom „Gesetz der grossen Zahl“.

Es gibt auch Phänomene, bei denen die möglichen Ereignisse nicht gleichverteilt sind. Dies ist zum Beispiel bei gezinkten Würfeln der Fall. Deshalb muss bei Phänomenen immer zuerst überlegt werden, wie die Verteilung der möglichen Fälle ist. Dies führt dann zu einer je anderen mathematischen Beschreibung und damit einer anderen Berechnung.

Besonders interessant beim stochastischen Denken ist, dass sich die Menschen schwer tun mit dem Glauben an die Berechnung des Zufalls, obwohl es mathematisch problemlos möglich und nicht einmal besonders schwierig ist, die Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter seltener Ereignisse zu berechnen und damit vorherzusagen. Unzählige Erwachsenen spielen Lotto und sind überzeugt, dass „ihre“ persönlichen Gewinnzahlen nun endlich kommen müssten, weil sie sie schon seit Jahren vergeblich spielen. Diese Fehlvorstellung ist derart verbreitet, dass Sie einen eigenen Namen, die „gamblers fallacy“ erhielt. In ihrem Verhalten unterscheiden sie sich damit nicht grundsätzlich von demjenigen kleiner Kinder, die fest daran glauben, dass sie eher eine 6 würfeln würden, wenn sie den Würfel streicheln, drücken oder küssen. Beides ist ein Irrtum und die Auftretenswahrscheinlichkeit für das Ereignis bleibt davon unbetroffen.

Vielleicht sieht man daran sehr schön, dass es nicht ausreicht, wenn man sich auf sein „Bauchgefühl“ verlässt und dass man sogar meistens irrt, wenn man die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt. Mathematik – und in diesem Fall die Wahrscheinlichkeitstheorie  – helfen, das intuitiv als richtig Vermutete aber objektiv gesehen Falsche, als solches zu erkennen. Das ist es, was man unter „statistical literacy“ versteht: fähig zu sein, statistische Ereignisse zu verstehen und kritisch zu beurteilen (Wallman, 1993).

 

Literatur

Biehler, R., & Engel, J. (2015). Stochastik: Leitidee Daten und Zufall. In R. Bruder, L. Hefendehl-Hebeker, B. Schmidt-Thieme, & H.-G. Weigand (Hrsg.), Handbuch der Mathematikdidaktik (S. 221–251). Heidelberg: Springer.

Feynman, R. P. (2016). QED: die seltsame Theorie des Lichts und der Materie (20. Aufl.). München: Piper.

Wallman, K. (1993). Enhancing statistical literacy: Enriching our society. Journal of the American Statistical Association, 88(421), 1–8.