Monika Simmler

 
 

Prof. Dr. Monika Simmler
Assistenzprofessorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen – mit besonderem Fokus auf Themen rund um Digitalisierung und Recht

 
 
 

Zufall rechtlich betrachtet

Als Strafrechtlerin kann ich meine Betrachtung salopp mit der Feststellung beginnen, dass jene Ereignisse zufällig sind, an denen niemand schuld ist. Sie gelten je nach Betrachtungsweise als Schicksal, Pech oder Glück, und damit als etwas, das nicht vom Menschen beeinflusst werden kann. Zufälle sind nicht das Resultat menschlichen Handelns, niemand hat deshalb für sie die Verantwortung zu tragen. Was wir niemandem als Handlung zurechnen, wofür wir deshalb niemanden verantwortlich erklären, ist also Zufall? Dass es sich dabei um eine Simplifikation handelt, zeigt die weitere Auseinandersetzung allerdings schnell. Schuld und rechtliche Verantwortlichkeit sind das Ergebnis von Zuschreibungsprozessen. Sie sind also sozial konstruiert, d.h. das Ergebnis gesellschaftlicher Wahrnehmungen und Wertungen. Das Gleiche gilt für den Zufall als deren Gegenpol. Was im Verantwortungsbereich von jemandem zu liegen kommt und was als Zufall zu behandeln ist, ist dementsprechend nicht per se als «Fakt» feststellbar, sondern folgt rechtlich (und somit gesellschaftlich) definierten Regeln. Einfacher wird es damit jedenfalls nicht, Zufall rechtlich zu verorten. Also beginnen wir lieber nochmals von vorne.

Der Zufall spielte schon im römischen Recht eine wichtige Rolle. Er wurde nicht als unvorhersehbares Ereignis, sondern als Wille der Göttin Fortuna verstanden, als Schicksalhaftes, als Vorsehung, aber auch als Chance. Losgelöst von Fortunas Macht gelten im heutigen ausservertraglichen Haftpflichtrecht mittlerweile schlicht Ereignisse als zufällig, welche unabhängig von menschlichem Verhalten stehen. Ein solches ausserhalb des menschlichen Wirkens anzusiedelndes Geschehen führt im Schadensfall dazu, dass der Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des potenziell Haftpflichtigen und dem eingetretenen Schaden verneint wird und die Haftpflicht entfällt. Zufall exkulpiert. Das Vertragsrecht hingegen, welches vom Verschuldensprinzip geprägt ist, definiert den Zufall zumeist negativ: Zufällig sind jene Ereignisse, die niemand verschuldet. Davon gibt es jedoch Ausnahmen, bei denen gerade explizit für Zufall gehaftet wird. So lautet Art. 103 Abs. 1 des Schweizerischen OR (Obligationenrecht): «Befindet sich der Schuldner im Verzug, so hat er Schadenersatz wegen Erfüllung zu leisten und haftet auch für den Zufall.» Verspätet sich also ein Unternehmen mit der zugesicherten Lieferung einer Sache in schuldhafter Weise, haftet es auch, wenn die Sache in der Folge zufällig in einem Brand zerstört wird. Gleiches gilt für jemanden, der etwas ausleiht und sich nicht an die Leihabmachungen hält. Er oder sie haftet grundsätzlich «für den Zufall» (Art. 306 Abs. 3 OR). Das Obligationenrecht kennt zudem den Begriff der «höheren Gewalt» (z.B. Art. 487 Abs. 1 OR), wobei die Abgrenzung zum Zufall nicht leichtfällt. Ob ein Herzinfarkt oder ein Verkehrsunfall «höhere Gewalt» oder «Zufall» ist, hängt wohl vom Weltbild des Betrachters oder der Betrachterin ab (oder im Falle des Obligationenrechts: von den Gerichten). Vielleicht ist die «höhere Gewalt» einfach die Superlative des Zufalls. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung werden darunter jedenfalls ausserordentliche Ereignisse wie Naturkatastrophen, Kriegszustände und Pandemien subsumiert (BGE 123 II 183 E. 3).

Im Strafrecht gilt das Schuldprinzip. Das bedeutet: Keine Strafe ohne Schuld. Eine Verantwortlichkeit für Zufall würde dem widersprechen. Die strafrechtliche Zurechnungslehre soll deshalb ermöglichen, Zufall von schuldhafter Verursachung zu unterscheiden. Ist im Strassenverkehr ein «Unfall» blosser Zufall, blosses Pech? Oder ist er dem fahrlässigen Verhalten einer Person geschuldet und wird damit zum «Delikt»? In einem ersten Schritt ist in der Prüfung strafrechtlicher Verantwortlichkeit festzustellen, ob Unrecht vorliegt, welches mit einem in einem Strafgesetz festgehaltenen Tatbestand übereinstimmt. Damit etwas als Unrecht qualifiziert werden kann, muss eine rechtswidrige Handlung vorliegen, was gerade beim Zufall nicht der Fall ist. Kommt jemand zufällig ums Leben, ist es ein Unglück. Kommt jemand durch eine rechtswidrige und schuldhafte Handlung ums Leben, ist es eine Straftat. Dabei ist zu betonen, dass derartige Grenzziehungen zwischen Unglück und Straftat nicht in Stein gemeisselt sind. Sie hängen vom Rechtssystem und von der Gesellschaft überhaupt ab. Ob eine Straftat vorliegt oder nicht, kann ferner auf andere Weise vom Zufall abhängen: Sogenannte Erfolgsdelikte hängen vom Eintritt eines «Erfolgs» ab (im Strafrecht werden Schadenseintritte wie Vermögensschäden oder Körperverletzungen etwas makaber als Erfolg bezeichnet). Ob dieser Erfolg jedoch eintritt, ist oft schlicht Pech. Man spricht im englischsprachigen Raum in diesem Zusammenhang auch von «moral luck». Ein Beispiel: Wer mit Tempo 50 durch die 30er-Zone brettert, macht sich strafbar (ein «Raser»). Wer mit Tempo 50 genau gleich durch die 30er-Zone brettert, dem aber jemand vors Auto läuft, wird zudem wegen fahrlässiger (manchmal auch eventualvorsätzlicher) Tötung bestraft. Das Handlungsunrecht ist identisch, der (zufällig eingetretene) Erfolg jedoch nicht. Auch der Erfolg findet in unserem Strafrecht aber Beachtung. Um noch einen praktischen Aspekt zu beleuchten, ist festzuhalten, dass die Strafverfolgung selbst auch massgeblich vom Zufall abhängt. Man denke z.B. nur schon an die immense Dunkelziffer: Wie viele fahren mit 50 durch die 30er-Zone und werden überhaupt nicht erwischt? Hier macht der Zufall (und das von der Politik genehmigte Budget für Messanlagen) überhaupt erst das Strafverfahren.

Natürlich sind auch in anderen Rechtsgebieten Bereiche auszumachen, in denen der Zufall relevant ist. Erhalten Kandidierende bei Wahlen die gleiche Stimmenanzahl, kommt z.B. teilweise das Losverfahren zum Einsatz (siehe z.B. St. Galler Gesetz über Wahlen und Abstimmungen). Der Zufall hätte es mittels der «Justizinitiative» zudem fast geschafft, die Konstituierung von Gerichten auf Bundesebene zu bestimmen. Die kurze rechtliche Betrachtung des Zufalls, die zweifellos nur einen kleinen Ausschnitt der Thematik beleuchten konnte, zeigt jedenfalls, dass dem Zufall im Recht grosse, wenn auch sehr unterschiedliche Bedeutung zukommt. Dort wo die rechtliche Feststellung eines Zufalls dazu dient, Menschen aus der Verantwortung zu entlassen für Sachverhalte, die nicht in ihrer Macht stehen, hat er seinen festen Platz im Recht verdient. Dort wo er hingegen Notlösung ist, um eine Entscheidung zu fällen oder mangels Alternative jemanden zur Rechenschaft ziehen zu können, wäre es eigentlich erstrebenswert, den Zufall weiter aus dem Recht zu verdrängen. Der saloppe Einstieg in den vorliegenden Annäherungsversuch, dass Zufall sei, woran niemand schuld ist, bestätigt sich dementsprechend nur teilweise. Manchmal verdankt man dem Zufall die Unschuld, manchmal aber gerade auch die Schuld. Was davon zutrifft, ist letztlich hingegen keineswegs Zufall. Es ist Recht und damit menschengemacht.